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Beispiel 10: Gemeinsam statt einsam

Integratives Wohnen in Walkersbrunn. Wie Alt und Jung gemeinsam das Leben meistern.

Manche alteingesessene Bewohner des kleinen Dörfchens Walkersbrunn bei Gräfenberg am Rande der Fränkischen Schweiz, einem Naherholungsgebiet 30 km nördlich von Nürnberg, mögen es als ungewöhnlich empfunden haben, als zu Ostern letzten Jahres eine Gemeinschaft von sieben Menschen im Alter von 26 bis 89 Jahren in das frei gewordene „Beckenhaus“ des Dorfes einzogen, die weder verheiratet, noch miteinander verwandt waren (bis auf Gisela und ihre Mutter). Ist es wirklich so ungewöhnlich, wenn sich Menschen zusammentun, um ihr Leben gemeinsam zu organisieren?

Sieben sehr unterschiedliche Menschen

Die fast erblindete 56-jährige Monika Gabrysch meint: „Für mich ist die Gemeinschaft eine große Bereicherung. Früher musste ich jede Hilfe selbst organisieren. Jetzt unterstützt mich die Hausgemeinschaft. Dafür bin ich sehr dankbar!“
Gisela Käb, die Initiatorin des Projektes, kann in der Gemeinschaft ihre 89-jährige Mutter versorgen, die rund um die Uhr Pflege braucht. Die anderen Bewohner unter-stützen sie bei der Betreuung und die Mutter lebt in der Gemeinschaft auf. Um ihre Mutter nicht ins Heim geben zu müssen, gab Gisela ihre Arbeit mit geistig Behinderten auf. Neben ihren eigenen Kindern hat sie mehrere Kinder adoptiert, die heute alle selbständig sind. Für die Gemeinschaft ist sie „Herz und Seele“ des Projektes. In fester Beziehung mit ihr lebt Martin Merklein , der mehr als 30 Jahre als Pfarrer in Brasilien tätig war und jetzt im Ruhestand ist.
Die 66-jährige Maria Knör sorgt dafür, dass die Gemeinschaft mit selbst angebautem biologischem Gemüse versorgt wird. Als gelernte Biogärtnerin verfügt sie über ein enormes Wissen über ökologische Zusammenhänge, die sie gern an die jüngeren Bewohner weitergibt, die mit ihr zusammen den gepachteten Acker bewirtschaften.
Doris Heinritz (44) und Uli Haller (26) partizipieren an der umfangreichen Erfahrung Marias über Bienenzucht ohne Gift und Chemie. Das hochorganisierte Leben der Bienen ist eine Wissenschaft für sich und bedarf ständiger Aufmerksamkeit. Für Doris, die hauptberuflich mit geistig Behinderten arbeitet und Uli, der als Drucker tätig ist, bedeutet die Arbeit in der Natur körperlichen Ausgleich und Entspannung.

Die Verwirklichung einer Vision

So gut es sich unter den gegebenen Bedingungen im „Beckenhaus“ (früher war es die einzige Bäckerei mit Gemischtwarenladen im Dorf) einrichten ließ, hat jeder seinen Wohnbereich mit Kochmöglichkeit für sich. Eine Mahlzeit am Tag wird von Gisela oder Maria für alle gekocht und gemeinsam eingenommen. Das ist für alle eine Entlastung und stärkt die Gemeinschaft. Dank des eigenen Feldgemüseanbaus reichen dafür 50 Euro im Monat pro Person. Eine wöchentliche Besprechung dient der Organisation des gemeinschaftlichen Lebens.
„Im Grunde habe ich schon seit 20 Jahren die Vision eines gemeinsamen Lebens von Alt und Jung“, erzählt Gisela Käb. 1996 schlossen sich die ersten Mitstreiter zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen und gründeten 1999 den Verein „Integrativ wohnen – Zu neuen Ufern“. Zur Zeit hat der Verein 30 Mitglieder. Um das gemein-same Leben noch effektiver gestalten und Hilfe besser organisieren zu können, ist als optimales Fernziel an eine Siedlungsgemeinschaft von 40 bis 80 Menschen aller Altersgruppen gedacht. „Mit einem verträglichen Maß an hilfsbedürftigen Menschen“, sagt Martin Merklein, „denn ein größerer Anteil Behinderter bedeutet, dass man bestimmte Auflagen für Heime erfüllen muss. Und das wollen wir nicht.“
Als sich lange Zeit kein geeignetes Objekt fand und auch die Schwierigkeiten einer Finanzierung deutlich wurden, nahm man von der Vision eines ganz großen Projek-tes Abstand. Statt einer ganzen Siedlung wurde das Haus in Walkersbrunn als „erste Zelle des Projektes“ gekauft. Möglich wurde dies durch die großzügige Spende einer Frau, der Gisela Käb in schweren Zeiten beigestanden hatte und die nun ihrerseits dieses Projekt förderte.

Die ersten Erfahrungen

Inzwischen haben die Bewohner erste Erfahrungen mit den Sonnen- und Schatten-seiten eines gemeinsamen Lebens gemacht: Gert Mathiesen hat sie nach ihren Er-fahrungen befragt.

Was empfindet ihr nach 5 Monaten des Zusammenlebens als besonders hilf-reich, was macht euch Freude?
Monika (fast blind): „Besonderen Spaß haben mir die Feste mit den Vereinsmitglie-dern und Freunden gemacht. Im Umgang miteinander macht mir Freude, dass sich immer wieder jemand findet, der mit mir die mir unbekannten Wege geht. Nach einiger Zeit finde ich sie dann selber.“
Gisela: „Besonders hilfreich erlebe ich, dass ich mit der schweren Aufgabe der Pflege meiner Mutter nicht allein bin.“
Martin: „Hilfreich ist, dass man verschiedene Personen als Gesprächspartner hat, als Anregung und Herausforderung.“

In welchen Bereichen ist an die Stelle einer ersten Begeisterung eine realisti-sche Ernüchterung getreten?
Gisela: „Jedes Vorhaben muss mit der Gemeinschaft, mit sechs Individualisten, be-sprochen und verstanden werden, bevor sie in die Tat umgesetzt wird. Vorher war ich es gewohnt, einfach selbst zu entscheiden und es umzusetzen. Ich will das ja so, aber dass Entscheidungen so lange dauern, ist eine Geduldsprobe.“

Gibt es in der Gemeinschaft auch Meinungsverschiedenheiten und wie regelt Ihr diese?
Martin: „Wir sind sieben sehr verschiedene Menschen mit unterschiedlicher persönlicher Geschichte. Jeder hat anderes Gepäck im Rucksack. Das ist spannend. Wir regeln dies, indem wir bei Mahlzeiten oder bei den wöchentlich stattfindenden WG-Treffs die Dinge ansprechen und zu klären versuchen, auch mit Hilfe von einer monatlicher Supervision.“
Doris: „In der Supervision fasse ich Mut, dass unser Experiment klappen kann. Wir sind sehr verschiedene individuelle Persönlichkeiten. Dass wir zu einem Miteinander kommen, läuft nicht konfliktfrei ab. Nötig ist ein Kennenlernen und damit Verstehenlernen des anderen. Wenn das klappt, finde ich es als etwas ganz Bereicherndes und die Grundlage für das weitere Zusammenleben.“
Gisela: „Unsere Dienstagstreffs dienen der Planung, der Organisation, aber auch der Beziehungsklärung. Da wird so lange geredet, bis auch bei Meinungsverschiedenheiten gemeinsame Entscheidungen getroffen werden können. Es hat sich bewährt, etwas anzusprechen, dann ruhen zu lassen und beim nächsten Mal versuchen wir, eine Entscheidung zu treffen. Es ist spannend, mit sechs verschiedenen Leuten zu einheitlichen Lösungen zu kommen.“

Wenn Ihr euch noch mal entscheiden könntet, würdet Ihr euch wieder für diese Lebensform integrativen Wohnens entscheiden?
Doris: „Dafür ist die Zeit noch zu kurz. Im Moment würde ich sagen: ja. In einem Jahr werden wir mehr wissen.“
Maria (zählt die Monate an ihren Fingern ab): „Die vier Monate reichen gerade, dass wir miteinander an die Schmerzgrenze kommen. Hauptsache, der Mut verlässt uns nicht!“
Uli: „Für mich ist es etwas ganz Neues. Bei mir ist es so ein Auf und Ab. Es sind Zeiten dabei, in denen es mir manchmal schon zuviel ist und es gibt Zeiten, da bin ich gern hier. Ich kann das nicht pauschal mit Ja beantworten.“
Gisela: „Freilich, aber es muss mit der Zeit weniger arbeitsintensiv werden, auch weil ich spüre, dass ich älter werde. Wir sieben Bewohner in Walkersbrunn können noch nicht das Endziel sein. Wir sind eine zu kleine Basis. Ich habe die Hoffnung, dass sich in Walkersbrunn noch mehr Möglichkeiten erschließen, weitere Häuser zu kaufen oder zu mieten, zumal die Dorfgemeinschaft so offen ist.“


(Bericht und Interview von Gert Mathiesen, abgedruckt im eurotopia-Teil der Kurskontakte 125, Februar/März 2003)

Näheres beim Verein „Integrativ wohnen – Zu neuen Ufern“ Tel. 09192/ 99 47 66.
Anschrift: Walkersbrunn 44, 91322 Gräfenberg


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